Mein Name ist Marius. Und ich laufe Ultras. 74 Kilometer, das war die längste Strecke bisher. 74 Kilometer. Was für eine Distanz. Viele Freunde, Bekannte, Kollegen oder Familienmitglieder halten mich schon für verrückt und stellen mir die Frage: WARUM zu Teufel machst du so einen Schwachsinn? Nun, wenn das so leicht zu beantworten wäre und ich es selber wüsste, dann würde ich wahrscheinlich keine Ultras mehr laufen. Und es nicht anstreben, noch längere Strecken zu laufen. Da ich aber immer noch am Laufen bin auf der Suche nach dem Sinn, versuche ich mich im Folgenden an einer Annäherung in 12 Thesen. Dies ist meine ganz persönliche Erklärung, warum Ultralaufen neben all dem Leiden auch reizvoll sein kann. 1. Ultra(trail) Training ist das beste Training, das es gibt Die Kurzfassung des Ganzen: Es macht unglaublich viel Spaß und wird nie langweilig. Denn Ultratraining ist unglaublich vielfältig: Von den kurzen, schnellen Intervalltrainings, über die sehr langen Läufe bis hin zum Ausgleichs- und Athletiktraining. Der geneigte Leser wird jetzt denken, das alles findet sich auch beim Marathontraining. Aber es gibt einige kleine, aber feine Unterschiede: Zum einen wäre da der Aspekt des Laufen auf Trails: Das gibt dem Laufen eine wichtige Komponente. Man muss immer aufmerksam unterwegs sein und die kleinen grauen Zellen werden gefordert. Mir bereitet das deutlich mehr Spaß, als stumpf meine Intervalle auf der Bahn zu laufen oder den langen Lauf auf der Straße zu absolvieren. Dann gibt es eine riesige Bandbreite an Dingen, die trainiert werden wollen: Das Laufen mit Stöcken, das Laufen mit Rucksack, das Bergablaufen, nur um mal einige wenige aufzuzählen. So bekommt jede Einheit einen eigenen Reiz und ist nicht mehr nur Laufen. Und der für mich wichtigste Punkt: man ist so viel in der Natur unterwegs. Das bringt uns auch schon direkt zu These 2. 2. Ultralaufen ist eine Reise zu mir selbst Man verbringt viel Zeit mit sich alleine und mit seinem Körper. So viel Zeit wie ich mir vorher in meinem Leben noch nie für mich genommen habe. In dieser Zeit bleibt natürlich viel Raum, um zum einen die Natur zu bewundern, den Weg zu finden und sich selber zu quälen. Zum anderen ist und bleibt das Ultralaufen aber auch immer ein mentaler Sport. Und wenn ich mental mit mir selbst nicht im Reinen bin, kann ich noch so gut trainiert haben, wenn mich etwas beschäftigt, dann läuft es nicht. Und wenn man so viel durch die Einsamkeit läuft, hat man Zeit sich mit Themen auseinanderzusetzen, die im Alltag sonst hinten runterfallen würden, die man vielleicht auch bewusst verdrängt. So konnte ich schon so einige Dilemmata für mich auf der Laufstrecke lösen und mir eine Lösungsstrategie zurechtlegen. Dabei hilft mir das Ultralaufen und das Training direkt im Leben. 3. Man hat immer eine Ausrede für neues Laufequipment Mal angenommen, der durchschnittliche Läufer in Deutschland legt 20 – 30 Kilometer die Woche auf Asphalt zurück und angenommen, der durchschnittliche Laufschuh hält 800 Kilometer, bis er ausgewechselt werden muss, dann dauert es ein knappes halbes Jahr, bis der Durchschnittsläufer sich ein neues Paar Schuhe kaufen darf. Als Ultratrailläufer mit einem Pensum von gut 120 – 150 Kilometern die Woche, darf ich dagegen alle 6 – 8 Wochen in den Laufladen meines Vertrauens spazieren, um mir neue Schuhe zu kaufen. Und dann braucht man natürlich für jeden Untergrund, jede Distanz und jedes Wetter noch verschiedene Schuhe. So, dass ich inzwischen eine beträchtliche Zahl an Laufschuhen zuhause habe. Doch da fängt der Spaß ja erst an. Je länger die Distanz, desto spezifischer auch die Ausrüstungsgegenstände, die man dafür „braucht“: Regenjacke, Regenhose, Laufweste, Trinksystem. Alles möglichst leicht und passend. Dann natürlich noch die Laufuhr, um jeden Lauf zu tracken. Eine Wissenschaft für sich sind auch noch die Laufcaps, Laufsocken, Sonnenbrillen und Kompressionssocken, die zum einen natürlich funktionell, aber auch stylish sein müssen. Denn, bei der ganzen Ausrüstungshysterie darf man nicht vergessen: Trailläufer sind die Style-Profis im Laufzirkus! Jedes Detail muss aufeinander abgestimmt sein, um ja eine gute Figur auf dem Trail zu machen und die Wanderer zu beeindrucken. Ich halte es jedoch, auch wenn mich manchmal der Kaufrausch packt und ich gerne in neue, schöne Dinge investiere am liebsten wie die Ultratrailpioniere aus den USA: Nur in Splitshorts und Schuhen, mit einer Flasche Wasser über den Trail rennen und dabei auch noch schnell sein. Das ist für mich das größtmögliche Gefühl der Freiheit, das der Alltag für mich bietet. 4. Ultraläufer sind die sozialeren und gemütlicheren Läufer Eine Episode aus meiner noch relativ kurzen Ultralaufkarriere: Im Sommer war ich bei der deutschen Meisterschaft im Ultratraillaufen dabei. Gemeldet waren ungefähr 250 Teilnehmer. Von meinen Stadtmarathonläufen und 10 Kilometerstarts hatte ich folgende Erwartung: Man muss mindestens 15 Minuten vor dem Start an der Startlinie stehen, um eine einigermaßen vernünftige Startposition zu bekommen. Sobald der Startschuss ertönt muss man aufpassen, dass man nicht überrannt wird und stolpert. Bis man seinen Rhythmus laufen kann dauert es mindestens 3-4 Kilometer. Die Realität sah ganz anders aus: Bis zwei Minuten vor dem Start standen alle ganz entspannt im Startbereich herum, die Favoriten unterhielten sich mit anderen Läufern (siehe später Punkt 6.) und keiner machte Anstalten, sich an die Startlinie zu stellen. Erst zwei Minuten vor dem Start, als der Renndirektor dazu aufrief, wurde sich ganz gemütlich einsortiert. Auch meine anderen Starts bei Ultratrails liefen ähnlich ab. Dazu kommt noch die generelle Offenheit: Wenn man zusammen läuft, dann schnackt man halt auch ein bisschen, man hat ja eh genug Zeit. Und die Hilfsbereitschaft: Sollte man mal nichts mehr zu trinken haben, oder es einem scheiße gehen, findet sich immer einer, der hilft. Meistens sogar der nächste Läufer, der vorbeikommt. Zumindest fragen die allermeisten nach, ob alles in Ordnung ist! 5. Man hat grandiose Naturerlebnisse und sammelt Erfahrungen, die man so nicht sammeln würde Welcher normale Mensch steht an einem freien Sonntag um 5 Uhr auf, um einen Marathon zu laufen und danach gemütlich mit der Familie zu Frühstücken? Keiner? Schon richtig, aber Ultraläufer machen das so. Und das hat mein Leben unheimlich bereichert. Wie viele Sonnenaufgänge ich in der Zeit schon gesehen habe, Tiere, die ich in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden beobachten durfte. Ein Vorteil des Ultratrainings ist es nämlich, dass man durch die großen Umfänge, wenn man Familie hat, sehr kreativ werden muss: Da werden die Laufschuhe schon mal abends nach dem Abendessen geschnürt um noch 30 Kilometer laufen zu gehen. Oder eben die angesprochene Einheit morgens um 5. Sehr zu empfehlen in den Bergen, um einen Sonnenaufgang vom Gipfel aus zu erleben. Grandios ist auch meine Hausrunde im Winter, nachts im Schneetreiben und mit 20 cm Neuschnee zu laufen. Unberührte Schneelandschaft, Äste, die in die Trails hingen und ein Mond, der die ganze Szenerie gespenstisch beleuchtete. Unvergesslich und unvergleichlich. Meine interessanteste tierische Begegnung war übrigens vor kurzem ein Dachs, der mir im Wald über den Weg spazierte, mich misstrauisch ansah und dann weiter seines Weges zog. Aber auch Begegnungen unangenehmer Art gehören dazu: So wurde ich in Griechenland von einigen Wachhunden verfolgt, hatte Kühe, die mir sauer hinterherstierten und wurde im Sommer morgens um 6 vom Gewitter überrascht. 6. Der Ultralaufsport bietet nahbare Vorbilder Wer schon mal in der Woche vor dem UTMB (Ultratrail du Mont Blanc, größtes Trailrennen der Welt um das Montblanc-Massiv, mit 170 Km) in und um Chamonix unterwegs war, ist wahrscheinlich vielen Größen des Trailsports begegnet. Diese sind wahrscheinlich auch immer gerne für ein kleinen Schnack zu haben. Das ist der große Vorteil an einem wachsenden und noch relativ kleinen Nischensport: Die Stars sind Leute, wie du und ich , die sich langsam hochgearbeitet haben. Leute mit Profil, nicht so weichgespült wie jeder x-beliebige Fußballspieler. Menschen, die etwas gelernt haben, lange für ihren Traum gearbeitet haben und es schlussendlich nach oben geschafft haben. So dass beim Ultratrail immer die schöne, illusionäre Vision bleibt, dass jeder schaffen könne, was die Läufer geschafft haben. Positiv kommt dazu, dass die besten Ultraläufer, mit einer Ausnahme, nicht mehr Anfang 20 sind. Einer der weltbesten Wüstenläufer, der immer noch Rennen gewinnt, Marco Olmo, ist schon weit über 60 Jahre alt. 7. Es ist einfacher, erfolgreich zu sein Hand aufs Herz: Jeder, der irgendwie Wettkämpfe läuft, macht das aus einem Antrieb. Und nicht selten ist der Traum da, zumindest einmal die Altersklassenwertung bei einem Laufwettkampf zu gewinnen. Das ist aus zwei Gründen bei Ultraläufen einfacher, als bei anderen Läufen: 1. Geringere Teilnehmerzahlen. 2017 gab es in Deutschland bei 263 Veranstaltungen knapp 114.500 Marathonfinisher. Bei Ultralaufveranstaltungen sind es deutlich weniger, auch wenn es hierfür keine belastbaren Zahlen gibt. Weniger Starter bedeutet gleichzeitig weniger Finisher, also bessere Chancen in der Wertung weiter vorne zu sein. 2. Bei einem Ultralauf entscheidet nicht nur die Schnelligkeit über Sieg oder Niederlage, sondern auch andere Faktoren. Je länger die Distanz wird, desto relevanter werden Faktoren wie die Ernährungsstrategie, die Psyche und die Schmerzaufnahmefähigkeit. Das alles führt dazu, dass auch relativ „langsame“ Läufer die Chance haben, bei einem Ultra weit vorne zu landen. Ich bin ganz ehrlich: Dieser Punkt hat mich immer motiviert Ultras zu laufen und mich bei meinem Training immer weiter zu pushen! Vielleicht wird’s bei mir ja irgendwann auch mal was mit dem Sieg bei einem kleinen Ultramarathon ;-) Wenn das nichts wird, besteht immer noch die Möglichkeit einfach eine kleine Veranstaltung selber zu organisieren. 8. Ultralaufen bietet eine Ausflucht aus dem hektischen Alltag und lässt uns die Ketten der beschränkten Welt, in der wir leben, sprengen Für mich ist klar, sobald ich meine Laufschuhe schnüre und mich auf die Trails begebe, gehört die Zeit nur mir. Kein Handy, keine Mails, keine Anrufe, keine Verpflichtungen. Diese 1 – 3 Stunden am Tag sind meine Zeit, die ich mir gönne, nehme und auch brauche, um wieder aufzutanken. Natürlich kann man diese Erfüllung in vielem suchen und auch finden, aber für mich geht nichts über einen richtig schönen Trainingslauf durch den Wald über flowige Trails. Nichts gibt mir mehr Kraft, mich mit den alltäglichen Problemen auseinanderzusetzen und meine Energiereserven wieder aufzutanken. Wir leben in einer Welt, in der es schwierig ist, Grenzerfahrungen zu sammeln. Im Grunde sind wir ein sehr gemütliches Leben gewöhnt. Das Ultralaufen sprengt diese Ketten und zwingt mich, in Sphären vorzudringen die ich so nicht kannte. Mein Körper wird aufs äußerste strapaziert. Ich mute ihm Dinge zu, von welchen ich nicht weiß, ob er sie bewältigen kann. Trotzdem zwinge ich mich über diese Grenzen zu gehen, weil ich weiß, dass danach wieder ein Hoch- und ein Glücksgefühl kommt. Dieser Rausch, den ich auch auf der Straße nicht finde, ist ein wesentlicher Teil meines persönlichen Antriebs zum Laufen. 9. Die Möglichkeiten Neues zu entdecken und zu erreichen sind unendlich Der Ultralaufsport bietet so unendlich viele Facetten, dass es schier unmöglich ist, ihn in seiner gesamten Breite zu erfassen. Seien es die vielen „kurzen“, landschaftlich reizvollen Ultratrailveranstaltungen bis 100 Kilometer, die flachen 100 Km Straßenläufe, 6, 12 oder 24h Läufe, Ultras in den Bergen bis 100 Meilen, oder die ganz, ganz langen Herausforderungen über 200 Kilometer. Bei diesem Menü findet jeder den richtigen Leckerbissen. Und auch abseits der Veranstaltungen gibt es so viel zu entdecken Warum nicht einfach mal einen Fernwanderweg mit leichtem Gepäck in wenigen Tagen durchlaufen? Warum nicht mal eine Bergtour mit etwas Laufen verbinden und dabei 50 oder mehr Kilometer laufen und so dem Alltag entfliehen?
11. Es gibt unendlich viel gute und inspirierende Literatur und Filme zu dem Thema Wenn mich etwas mit dem Thema Ultralaufen infiziert hat, dass waren es eindeutig die Publikationen, die es zu dem Thema gibt. Hier mal ein kleiner Auszug daraus: - Das Buch „Eat & Run“ von Scott Jurek, einer der besten und einflussreichsten Ultraläufer, den es je gab. In dieser Autobiographie beschreibt er seinen Werdegang zum Ultraläufer und die Herausforderungen, denen er dabei begegnete - Born to Run von Cristopher McDougall, ebenfalls ein Klassiker der Laufliteratur - Ultramarathon Man von Den Karnazis, ein vollkommen verrückter Mann, mit (positiv) verrückten Ideen und Läufen - The Why von Billy Yang: Ein schöner Film auf Youtube, der die Frage dieses Textes nochmals aufgreift: Warum läuft man eigentlich Ultras? Was ist der Reiz dahinter? - Found at 49, ein Film der die ganze Dramatik und Ästhetik des Ultralaufens transportiert - Life in a Day. Eine Reportage über das Frauenrennen beim Western States 100 Mile Endurance Race, welche die besten Frauen auf ihrem Weg vom Start ins Ziel begleitet und dabei auch die Hintergründe der Protagonistinnen beleuchtet. Dies ist nur ein ganz, ganz kleiner Teil dessen, was es an Filmen und Literatur gibt. Sehr viel findet sich einfach frei verfügbar auf Youtube und man kann Tage damit verbringen sich von tollen Menschen und unglaublichen Landschaften inspirieren zu lassen. 12. Egal, wie schlecht es einem ging, wie sehr man gelitten hat oder wie hart man sich verflucht hat: Am Ende will man immer weitermachen und immer weiter gehen – es ist wie eine Sucht
Ich habe viel geschrieben, aber im Prinzip lässt sich alles auf diesen Satz komprimieren. Jeder der vorherigen Thesen führt, manchmal augenzwinkernd, für mich dahin, dass das Ultralaufen die perfekte Sportart ist. Diese ist auch nicht zu vergleichen mit 10 km Läufen oder Marathons, sondern hat ihre ganz speziellen Eigenheiten und Feinheiten, die ich schätzen gelernt habe und die mich dazu bewegen, immer weiter zu machen. Für mich ist auch klar, dass nach 74 km noch lange nicht Schluss ist, der Reiz die Distanzen zu verlängern ist auf jeden Fall da. Und sosehr man das Ultralaufen auch als Wettkampf ansehen kann, am Ende bleibt es vor allem eins: Ein genussvoller, manchmal grenzüberschreitender und schmerzvoller, aber immer wundervoller Begleiter in allen Lebenslagen.
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AutorMarius, Ultrarunner & Familienvater, Veganer, läuft am liebsten im Gelände. Archiv
Januar 2019
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